Miranda, eine erfolgreiche Raritätenhändlerin Anfang Dreißig, sitzt im Taxi auf dem Weg zum Flughafen in L.A., als sie am Straßenrand eine offensichtlich verzweifelte alte Frau im Rollstuhl entdeckt, die ihr auf unerklärliche Art vertraut ist. Per Handy verständigt sie die Polizei und fährt weiter.
Zurück in New York, lernt sie einen Kunstexperten kennen, der ihrer verstorbenen Jugendliebe ähnelt. Die Anziehung ist gegenseitig: Er trennt sich ihr zuliebe von seiner Familie, und beide ziehen aufs Land, in ein Haus, das eine exzentrische alte Dame ihnen zur Verfügung stellt. Miranda wird schwanger. Doch an dem Abend, an dem sie ihm die freudige Nachricht mitteilen will, geschieht etwas ganz und gar Ungeheuerliches...Virtuos verknüpft Jonathan Carroll Elemente des magischen Realismus mit der nervenzerreißenden Spannung eines Thrillers. Einmal mehr erweist er sich dabei als ein Meister der Verzauberung, der seinen Romanfiguren die geheimsten Wünsche erfüllt - doch das heißt nich t, dass diese Erfüllung sie glücklich macht.
Zurück in New York, lernt sie einen Kunstexperten kennen, der ihrer verstorbenen Jugendliebe ähnelt. Die Anziehung ist gegenseitig: Er trennt sich ihr zuliebe von seiner Familie, und beide ziehen aufs Land, in ein Haus, das eine exzentrische alte Dame ihnen zur Verfügung stellt. Miranda wird schwanger. Doch an dem Abend, an dem sie ihm die freudige Nachricht mitteilen will, geschieht etwas ganz und gar Ungeheuerliches...Virtuos verknüpft Jonathan Carroll Elemente des magischen Realismus mit der nervenzerreißenden Spannung eines Thrillers. Einmal mehr erweist er sich dabei als ein Meister der Verzauberung, der seinen Romanfiguren die geheimsten Wünsche erfüllt - doch das heißt nich t, dass diese Erfüllung sie glücklich macht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Dietmar Dath zeigt sich ausgesprochen angetan von Jonathan Carrolls neuem Roman, der ihn gelegentlich an David Lynchs letzten Film "Mulholland Drive" erinnerte. Dort werde ein ähnlicher Bilderrausch mit einer ähnlichen Zweiteilung gekoppelt: auch im Roman des Lynch seelenverwandten Carroll schmiege sich die Handlung fließend an die Trennung von "Diesseits" und "Jenseits" an. Im Wesentlichen handelt es sich bei diesem Roman den Informationen des Rezensenten zufolge um einen "Liebesroman", wenn auch einen narzisstischen. Die Rede sei von der "paradoxen, gewissermaßen unerwiderten Liebe" der Protagonistin Miranda zu sich selbst. Wie dies sich im einzelnen in der Handlung entfaltet, wird letztlich wohl nur die höchstpersönliche Lektüre klären können. Der Rezensent jedenfalls konnte so ganz nicht erklären, wovon das Buch genau erzählt. Besonders in der zweiten Romanhälfte sah er "gespenstische Bilderfluten und Spukhalluzinationen in großen Mengen Sinn mit wahrem Heißhunger aufessen". Trotzdem war Dath begeistert. Rainer Schmidts Übersetzung, die bewusst einige "Americana" unübersetzt lasse, sei eine der Besten, die es seit den Achtziger Jahren in Deutschland gegeben habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2002Die Ehe der Holzstücke
Jonathan Carroll sucht nach Unsterblichkeit und findet Liebe
Phantastische Literatur lebt von Effekten des Sinngefälles: Ihre Welten haben entweder mehr oder weniger Sinn als die empirische Umgebung der Leser. Wenn phantastische Literatur das Thema Liebe behandelt, kann deshalb, falls der jeweilige Text gelungen ist, eigentlich nur eine Wirkung eintreten: Trost. Denn wenn in der Science-fiction zwei ohne eigenes Verschulden Getrennte einander als Softwarekopien im virtuellen Nirwana wiederbegegnen, wenn der Geist in der Spukgeschichte Frieden findet, wenn die Heldin der Horrornovelle ihren Liebsten, der leider ein Vampir geworden ist, mit herzzerreißender Entschlossenheit pfählen muß, dann neigt sich das Sinngefälle immer in dieselbe Richtung: Die Geschichte ist sinnvoller, runder, geschlossener als je eine Beziehung im Leben. Liebe in der Phantastik passiert nicht einfach, hört auch nicht ohne Grund wieder auf, wie man es aus dem Leben kennt, sondern folgt vom Genre selbst oder von schlauer Erfindung vorbestimmten Regeln. Sinnvoll lieben: Wer möchte das nicht - selbst wenn man sich vor dem literarischen Ergebnis nicht selten gruselt. Doch selbst das ist tröstlich: Das eigene Leben mag als solches rundum sinnfrei sein, aber das heißt auch, daß es nicht mit schauerlicher Konsequenz in die Hölle führt.
Jonathan Carrolls "Fieberglas" ist ein Liebesroman, wenn auch ein narzißtischer. Der "Heldin" des Buches wird erst sehr spät bewußt, daß die zahlreichen Liebesgeschichten, in die sie im Laufe eines Lebens, das länger war, als sie zunächst ahnt, Energie und Zeit investiert hat, nichts als Ablenkungsmanöver waren. Wen sie auch geliebt, wem sie auch geschadet, wen sie auch verbraucht und mit ihrem Fluch gestreift hat: das alles hat sie nur getan, um sich nicht der einen amourösen Verstrickung auszusetzen, die unterirdisch dieses ganze Leben regiert hat. Die Rede ist von ihrer paradoxen, gewissermaßen unerwiderten Liebe zu sich selbst. Carroll benennt dieses Gefühl nicht explizit, sondern tut, was jeder gute Genre-Autor tun würde: Er sucht ein Bild dafür, das ihn auch dann nicht verläßt, wenn er den Tiefsinn seiner Grundidee mal ein paar Dutzend Seiten lang satt bekommt und lieber eine Geschichte erzählt.
Der Topos Narzißmus ist in "Fieberglas" in dem der Moderne von Oscar Wilde in Gestalt von Dorian Gray geschenkten Bild der Unsterblichkeit aufbewahrt. Der Rest, den Carroll um diesen Bildkern herum arrangiert, ist ein sehr dichtes Märchen. In der ersten Hälfte des Romans erzählt uns Miranda Romanac, die wir aufgrund diskreter Indizien für Mitte Dreißig halten dürfen, von ihrem Leben als Händlerin antiquarischer Manuskripte moderner Schriftsteller, von einem Klassentreffen, bei dem sie vom Tod ihrer großen Jugendliebe erfährt, von ihrem Hang zu einigermaßen barocken "Memento mori"- Epiphanien - sie sieht aus dem Taxi eine alte Frau im Rollstuhl am Rande der Schnellstraße, Klassenkameraden von früher entpuppen sich beim Wiedersehen als lebende Gespenster, und schließlich erscheint ihr der Jugendgeliebte am hellichten Tag in der dichtbevölkerten Innenstadt. Sie berichtet uns von einer Affäre mit einem verheirateten Kunsthändler und von ihrer Bekanntschaft mit einer legendären "großen Geliebten" verschiedener bedeutender Künstler und Literaten der Moderne, die ihre im Laufe eines langen Lebens angesammelten Schätze mit Mirandas Hilfe veräußern will.
Diesen "realistischen" Teil ihrer Lebensschilderung beschließt Miranda damit, daß der verheiratete Kunsthändler, den mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihrem toten Jugendfreund verbindet, für Miranda seine Frau verläßt, mit ihr in ein Haus auf dem Land zieht, das die geheimnisvolle Alte mit Mätressenvergangenheit Miranda geschenkt hat, und eines Nachmittags friedlich mit Miranda im Sessel sitzend einfach stirbt - bevor sie ihm erzählen kann, daß sie ein Kind von ihm erwartet.
Sauber geschieden von dieser ersten Hälfte ist die zweite, spektrale und spektakuläre. Die Romanarchitektur schmiegt sich hier fließend an die Trennung von "Diesseits" und "Jenseits" an, die das Geschehen fortan bestimmt und alles, was von nun an erzählt wird, zu einer Abfolge von mal starken, mal gesuchten Bildern macht. Man fühlt sich an David Lynch erinnert, vor allem an seinen letzten Film "Mulholland Drive", der einen ähnlichen Bilderrausch mit einer ähnlicher Zweiteilung koppelt. Ohnehin ist Lynch ein Carroll seelenverwandter Bildverzerrer und Zeichen-Entrücker.
Miranda selbst vergleicht das, was um sie her und in ihrem Kopf geschieht, einmal direkt mit "einem David Lynch-Film". Ganz anders jedoch als beim eingeschworenen Erz-Amerikaner und Ahistoriker Lynch, dem, weil er filmisch denkt, der Effekt der schieren Irreführung mit gezeigtem und einkassiertem Sinn über jeden konkreten Sinnzusammenhang geht, erweist sich der in Wien lebende Exilamerikaner Carroll in seiner Haltung gegen das Sinnversprechen als sehr europäischer, fast alteuropäisch zu nennender Künstler.
So ist die zweite Romanhälfte, in der gespenstische Bilderfluten und Spukhalluzinationen große Mengen Sinn mit wahrem Heißhunger aufessen, dennoch auch der Roman-Ort, an dem Sinn wieder erzeugt wird, um die Bilder zu versöhnen. Mirandas ganzes Leben, erfahren wir, war nicht nur dieses eine, das sie kennt und an dem sie uns (mit einigen gezielten Aussparungen) hat teilnehmen lassen, sondern eine ganze Kette von Leben. Anders als der anonyme Hare-Krishna-Jünger, der einem auf der Straße ein Büchlein über Reinkarnation verkaufen will und werbend daran erinnert, daß auch Sokrates, Benjamin Franklin, Nietzsche und Salinger gute Worte für die Wiedergeburtslehre übrig hatten, ist Unsterblichkeit bei Carroll aber keine überzeitlich religiöse, sondern eine zutiefst historisch angelegte Metapher.
Nicht alle Menschen haben Mirandas Schicksal, im Gegenteil waren es stets nur wenige, die diese Art von mit dem Vergessen großer Teile der "Vorleben" erkaufter Sorte Unsterblichkeit besaßen. Ihre Geheimgeschichte ist auch eine der Menschheit. Irgendwann, so heißt es, müssen solche Unsterblichen auf ihre vielen Leben zurückblicken und sich fragen, ob sie genug Wissen akkumuliert haben, um auf eine andere Ebene fortschreiten zu können, die vielleicht ihren Tod, vielleicht ihre Erlösung bedeutet: "Hospize für Menschen wie Sie", sagt eine eingeweihte Stimme zu Miranda, "gibt es seit Beginn der Geschichtsschreibung. Ein Hotel in den Pyrenäen, eine Jugendherberge in Mali, ein Krankenhaus in Montevideo. Über einem der Gräber im Tal der Könige in Ägypten steht eine Inschrift, die ..."
Hier bricht die Stimme ab. Daß langes Leben, Einsamkeit, Narzißmus, Kälte gegen andere und Vergessenkönnen für die Phantastik einen eng verflochtenen Konnex bilden, ist als Moment ihrer Motivgeschichte von den Mythen um den Wanderer Kain bis zu Clive Barkers Tausend-Seiten-Roman "Imajica" (1991) durchgehend bedeutsam gewesen. Anders als bei dem genannten, Carrolls Erzähltechnik in vielen Einzelheiten sehr nahestehenden Buch von Barker aber ist die Unsterblichkeit bei Carroll am Ende wichtiger als der unsterbliche Mensch selber, der Sinn wichtiger als die Menschen, die ihn brauchen: Miranda gibt ihre Gabe weiter - und wird so Teil dessen, was größer ist als sie.
Seit seinem ersten Roman "Schlaf in den Flammen", wo noch die Literatur selber Gegenstand der literarisch-phantastischen Suche nach Sinngezeiten war, hat sich Jonathan Carroll zu einem Autor entwickelt, dessen Werk Vermittlung zwischen eingefrorener Gegenwart und zum Fließen gebrachter (Geheim-)Geschichte sein will. Die eingefrorene Gegenwart kommt wie in den Coladosen und Automarken bei Stephen King vor allem in Alltags-Splittern zum Ausdruck, auch in diesem Roman: ein Billy-Idol-Song aus den achtziger Jahren hat plötzlich Patina und Aura, eine Kleinstadt sieht aus, wie Kleinstädte erst in den Neunzigern auszusehen gelernt haben. Nebenbei bemerkt: Die Übersetzung von Rainer Schmidt, die bewußt einige Americana wie das "Sideboard" und die Anrede "Honey" unübersetzt läßt, wird diesem Alltags-Splittereffekt voll gerecht und ist damit eine der besten Carroll-Übersetzungen, die es seit den Achtzigern in Deutschland gegeben hat.
Hinter dem Alltag aber proklamiert Carroll ein Verhältnis der Figuren zur Zeit, das aus Alltag auf magische Art Geschichte machen will. Das geschieht auch in jener Passage, die den Originaltitel des Buches, "The Marriage of Sticks", erläutert: "Wenn etwas wirklich Wichtiges in deinem Leben passiert, suche, wo immer du bist, ein Stück Holz und schreibe den Anlaß und das Datum darauf. Halte die Hölzer zusammen und beschütze sie. Es dürfen nicht zu viele sein; schau sie dir alle paar Jahre an und trenne die Ereignisse, die immer noch wichtig sind, von denen, die es waren. Wenn du sehr alt bist, sehr krank, oder sicher, daß du nicht mehr lange zu leben hast, leg sie zusammen und verbrenne sie. Die Ehe der Holzstücke."
Carrolls Roman ist die Chronik so einer Holzverbrennung: traurig, trocken und schön. Wenn er so erfolgreich ist, wie zu wünschen wäre, darf man hoffen, daß es auch den durch eine Reihe von inhaltlichen und motivischen Korrespondenzen damit verbundenen, noch schöneren Nachfolger "The Wooden Sea" bald auf deutsch geben wird.
Jonathan Carroll: "Fieberglas". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 375 S., geb., 19,90 [Euro].
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Jonathan Carroll sucht nach Unsterblichkeit und findet Liebe
Phantastische Literatur lebt von Effekten des Sinngefälles: Ihre Welten haben entweder mehr oder weniger Sinn als die empirische Umgebung der Leser. Wenn phantastische Literatur das Thema Liebe behandelt, kann deshalb, falls der jeweilige Text gelungen ist, eigentlich nur eine Wirkung eintreten: Trost. Denn wenn in der Science-fiction zwei ohne eigenes Verschulden Getrennte einander als Softwarekopien im virtuellen Nirwana wiederbegegnen, wenn der Geist in der Spukgeschichte Frieden findet, wenn die Heldin der Horrornovelle ihren Liebsten, der leider ein Vampir geworden ist, mit herzzerreißender Entschlossenheit pfählen muß, dann neigt sich das Sinngefälle immer in dieselbe Richtung: Die Geschichte ist sinnvoller, runder, geschlossener als je eine Beziehung im Leben. Liebe in der Phantastik passiert nicht einfach, hört auch nicht ohne Grund wieder auf, wie man es aus dem Leben kennt, sondern folgt vom Genre selbst oder von schlauer Erfindung vorbestimmten Regeln. Sinnvoll lieben: Wer möchte das nicht - selbst wenn man sich vor dem literarischen Ergebnis nicht selten gruselt. Doch selbst das ist tröstlich: Das eigene Leben mag als solches rundum sinnfrei sein, aber das heißt auch, daß es nicht mit schauerlicher Konsequenz in die Hölle führt.
Jonathan Carrolls "Fieberglas" ist ein Liebesroman, wenn auch ein narzißtischer. Der "Heldin" des Buches wird erst sehr spät bewußt, daß die zahlreichen Liebesgeschichten, in die sie im Laufe eines Lebens, das länger war, als sie zunächst ahnt, Energie und Zeit investiert hat, nichts als Ablenkungsmanöver waren. Wen sie auch geliebt, wem sie auch geschadet, wen sie auch verbraucht und mit ihrem Fluch gestreift hat: das alles hat sie nur getan, um sich nicht der einen amourösen Verstrickung auszusetzen, die unterirdisch dieses ganze Leben regiert hat. Die Rede ist von ihrer paradoxen, gewissermaßen unerwiderten Liebe zu sich selbst. Carroll benennt dieses Gefühl nicht explizit, sondern tut, was jeder gute Genre-Autor tun würde: Er sucht ein Bild dafür, das ihn auch dann nicht verläßt, wenn er den Tiefsinn seiner Grundidee mal ein paar Dutzend Seiten lang satt bekommt und lieber eine Geschichte erzählt.
Der Topos Narzißmus ist in "Fieberglas" in dem der Moderne von Oscar Wilde in Gestalt von Dorian Gray geschenkten Bild der Unsterblichkeit aufbewahrt. Der Rest, den Carroll um diesen Bildkern herum arrangiert, ist ein sehr dichtes Märchen. In der ersten Hälfte des Romans erzählt uns Miranda Romanac, die wir aufgrund diskreter Indizien für Mitte Dreißig halten dürfen, von ihrem Leben als Händlerin antiquarischer Manuskripte moderner Schriftsteller, von einem Klassentreffen, bei dem sie vom Tod ihrer großen Jugendliebe erfährt, von ihrem Hang zu einigermaßen barocken "Memento mori"- Epiphanien - sie sieht aus dem Taxi eine alte Frau im Rollstuhl am Rande der Schnellstraße, Klassenkameraden von früher entpuppen sich beim Wiedersehen als lebende Gespenster, und schließlich erscheint ihr der Jugendgeliebte am hellichten Tag in der dichtbevölkerten Innenstadt. Sie berichtet uns von einer Affäre mit einem verheirateten Kunsthändler und von ihrer Bekanntschaft mit einer legendären "großen Geliebten" verschiedener bedeutender Künstler und Literaten der Moderne, die ihre im Laufe eines langen Lebens angesammelten Schätze mit Mirandas Hilfe veräußern will.
Diesen "realistischen" Teil ihrer Lebensschilderung beschließt Miranda damit, daß der verheiratete Kunsthändler, den mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihrem toten Jugendfreund verbindet, für Miranda seine Frau verläßt, mit ihr in ein Haus auf dem Land zieht, das die geheimnisvolle Alte mit Mätressenvergangenheit Miranda geschenkt hat, und eines Nachmittags friedlich mit Miranda im Sessel sitzend einfach stirbt - bevor sie ihm erzählen kann, daß sie ein Kind von ihm erwartet.
Sauber geschieden von dieser ersten Hälfte ist die zweite, spektrale und spektakuläre. Die Romanarchitektur schmiegt sich hier fließend an die Trennung von "Diesseits" und "Jenseits" an, die das Geschehen fortan bestimmt und alles, was von nun an erzählt wird, zu einer Abfolge von mal starken, mal gesuchten Bildern macht. Man fühlt sich an David Lynch erinnert, vor allem an seinen letzten Film "Mulholland Drive", der einen ähnlichen Bilderrausch mit einer ähnlicher Zweiteilung koppelt. Ohnehin ist Lynch ein Carroll seelenverwandter Bildverzerrer und Zeichen-Entrücker.
Miranda selbst vergleicht das, was um sie her und in ihrem Kopf geschieht, einmal direkt mit "einem David Lynch-Film". Ganz anders jedoch als beim eingeschworenen Erz-Amerikaner und Ahistoriker Lynch, dem, weil er filmisch denkt, der Effekt der schieren Irreführung mit gezeigtem und einkassiertem Sinn über jeden konkreten Sinnzusammenhang geht, erweist sich der in Wien lebende Exilamerikaner Carroll in seiner Haltung gegen das Sinnversprechen als sehr europäischer, fast alteuropäisch zu nennender Künstler.
So ist die zweite Romanhälfte, in der gespenstische Bilderfluten und Spukhalluzinationen große Mengen Sinn mit wahrem Heißhunger aufessen, dennoch auch der Roman-Ort, an dem Sinn wieder erzeugt wird, um die Bilder zu versöhnen. Mirandas ganzes Leben, erfahren wir, war nicht nur dieses eine, das sie kennt und an dem sie uns (mit einigen gezielten Aussparungen) hat teilnehmen lassen, sondern eine ganze Kette von Leben. Anders als der anonyme Hare-Krishna-Jünger, der einem auf der Straße ein Büchlein über Reinkarnation verkaufen will und werbend daran erinnert, daß auch Sokrates, Benjamin Franklin, Nietzsche und Salinger gute Worte für die Wiedergeburtslehre übrig hatten, ist Unsterblichkeit bei Carroll aber keine überzeitlich religiöse, sondern eine zutiefst historisch angelegte Metapher.
Nicht alle Menschen haben Mirandas Schicksal, im Gegenteil waren es stets nur wenige, die diese Art von mit dem Vergessen großer Teile der "Vorleben" erkaufter Sorte Unsterblichkeit besaßen. Ihre Geheimgeschichte ist auch eine der Menschheit. Irgendwann, so heißt es, müssen solche Unsterblichen auf ihre vielen Leben zurückblicken und sich fragen, ob sie genug Wissen akkumuliert haben, um auf eine andere Ebene fortschreiten zu können, die vielleicht ihren Tod, vielleicht ihre Erlösung bedeutet: "Hospize für Menschen wie Sie", sagt eine eingeweihte Stimme zu Miranda, "gibt es seit Beginn der Geschichtsschreibung. Ein Hotel in den Pyrenäen, eine Jugendherberge in Mali, ein Krankenhaus in Montevideo. Über einem der Gräber im Tal der Könige in Ägypten steht eine Inschrift, die ..."
Hier bricht die Stimme ab. Daß langes Leben, Einsamkeit, Narzißmus, Kälte gegen andere und Vergessenkönnen für die Phantastik einen eng verflochtenen Konnex bilden, ist als Moment ihrer Motivgeschichte von den Mythen um den Wanderer Kain bis zu Clive Barkers Tausend-Seiten-Roman "Imajica" (1991) durchgehend bedeutsam gewesen. Anders als bei dem genannten, Carrolls Erzähltechnik in vielen Einzelheiten sehr nahestehenden Buch von Barker aber ist die Unsterblichkeit bei Carroll am Ende wichtiger als der unsterbliche Mensch selber, der Sinn wichtiger als die Menschen, die ihn brauchen: Miranda gibt ihre Gabe weiter - und wird so Teil dessen, was größer ist als sie.
Seit seinem ersten Roman "Schlaf in den Flammen", wo noch die Literatur selber Gegenstand der literarisch-phantastischen Suche nach Sinngezeiten war, hat sich Jonathan Carroll zu einem Autor entwickelt, dessen Werk Vermittlung zwischen eingefrorener Gegenwart und zum Fließen gebrachter (Geheim-)Geschichte sein will. Die eingefrorene Gegenwart kommt wie in den Coladosen und Automarken bei Stephen King vor allem in Alltags-Splittern zum Ausdruck, auch in diesem Roman: ein Billy-Idol-Song aus den achtziger Jahren hat plötzlich Patina und Aura, eine Kleinstadt sieht aus, wie Kleinstädte erst in den Neunzigern auszusehen gelernt haben. Nebenbei bemerkt: Die Übersetzung von Rainer Schmidt, die bewußt einige Americana wie das "Sideboard" und die Anrede "Honey" unübersetzt läßt, wird diesem Alltags-Splittereffekt voll gerecht und ist damit eine der besten Carroll-Übersetzungen, die es seit den Achtzigern in Deutschland gegeben hat.
Hinter dem Alltag aber proklamiert Carroll ein Verhältnis der Figuren zur Zeit, das aus Alltag auf magische Art Geschichte machen will. Das geschieht auch in jener Passage, die den Originaltitel des Buches, "The Marriage of Sticks", erläutert: "Wenn etwas wirklich Wichtiges in deinem Leben passiert, suche, wo immer du bist, ein Stück Holz und schreibe den Anlaß und das Datum darauf. Halte die Hölzer zusammen und beschütze sie. Es dürfen nicht zu viele sein; schau sie dir alle paar Jahre an und trenne die Ereignisse, die immer noch wichtig sind, von denen, die es waren. Wenn du sehr alt bist, sehr krank, oder sicher, daß du nicht mehr lange zu leben hast, leg sie zusammen und verbrenne sie. Die Ehe der Holzstücke."
Carrolls Roman ist die Chronik so einer Holzverbrennung: traurig, trocken und schön. Wenn er so erfolgreich ist, wie zu wünschen wäre, darf man hoffen, daß es auch den durch eine Reihe von inhaltlichen und motivischen Korrespondenzen damit verbundenen, noch schöneren Nachfolger "The Wooden Sea" bald auf deutsch geben wird.
Jonathan Carroll: "Fieberglas". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 375 S., geb., 19,90 [Euro].
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